Gute Bilder brauchen keine(n) Rahmen
Georg Baselitz
Jacke wie Hose
Alfred Müllers Jockey Club
»Jacke wie Hose« geht auf das 17. Jahrhundert zurück, als es noch nicht üblich war, eine Jacke und die dazugehörige Hose aus dem gleichen Stoff herzustellen. Als findige Schneider dazu übergingen, beides aus dem gleichen Tuche zu fertigen, benutzen sie den Ausdruck »Jacke wie Hose« für diese Innovation. »Jacke wie Hose« mag sich auch Karl Friedrich Schinkel gedacht haben, als er von 1827 bis 1830 für eine Reihe von Gemälden, die später »sein« Altes Museum in Berlin zieren sollten, gut 600 Bilderrahmen entwarf und anfertigen ließ.1 Schinkel hätte also Georg Baselitz’ puristischem Diktum vom Wert der rahmenlosen Bilder vehement widersprochen und damit selbstverständlich einer langen Tradition, die nicht zuletzt – oder wie so häufig – auf den Philosophen Immanuel Kant zurückgeführt werden kann. Baselitz’ Kritik, die er gerne im Rahmen seiner Lehrverpflichtungen zum Besten zu geben pflegte, wird demnach bereits Ende des 18. Jahrhunderts in Kants Kritik der Urteilskraft formuliert - wenn auch etwas komplizierter.
Variantenreich gehört sie bis heute als »berühmt-berüchtigte Kommentarbedürftigkeit«2 zum Standardrepertoire der Kritik an der modernen Kunst, die einfach nicht das sage, was sie zu sagen habe, sondern hierzu die Schützenhilfe des Kunst-Kommentators benötigt. Nun verweisen gerade zeitgenössische Vertreter dieser Zunft darauf, dass gute Kunst eigentlich ohne Kommentar überhaupt nicht zu haben ist. Im öffentlichen Raum, wie z. B. in einem Museum, wirken Bilder ohne Text »schutzlos und […] peinlich, wie ein nackter Mensch im öffentlichen Raum. Zumindest brauchen die Bilder einen textuellen Bikini in Form einer Unterschrift mit dem Namen des Künstlers oder dem Titel des Bildes (dieser Titel kann im schlimmsten Fall Oben ohne, das heißt Ohne Titel, lauten)«.3 Diese schützenden Textkleider, so der Autor weiter, dürfen ja nicht zu verständlich sein, sondern je hermetischer, desto besser, denn dann schützen sie das Kunstwerk erst richtig vor seiner peinlichen Entblößung. Gute Bilder brauchen gute Rahmen, das wusste bereits Schinkel, als er die aufwendigen Bilderrahmen für die Gemäldegalerie raffiniert auf die Inhalte der jeweiligen Bilder abstimmte und ihnen somit einen doppelten Boden verpasste. Findige Zeitgenossen werden bemerken, dass selbst das Museum oder die Wand an der solch schnörkellos gute Bilder hängen, bereits eine zum Teil aufwendige Verzierung des Bildes darstellen, auf die auch Georg Baselitz nur sehr ungern verzichten würde. Nun reicht es sicherlich nicht aus, andere Philosophen oder Bilder vom Kopf auf die Füße zu stellen, um diese rätselhafte Verbindung von Bild und Rahmen zu erkennen. Das hieße ja »Jacke wie Hose«, sondern man muss den Paradigmenwechsel von Identität auf Differenz bemerken, den unsere Kultur spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts vollzogen hat.
»Jacke ist nicht Hose« meint zwar auch Jacques Derrida, aber man sollte zumindest das Kleingedruckte lesen, was er dann ja auch in seiner Lektüre der Kritik der Urteilskraft getan hat, als er u. a. deren Fußnoten sorgfältig untersuchte. Da, wo Kant Goldrahmen, bunte Beschichtung, jede Form von Zierrat aus dem schönen Werk ausschließen will, erkennt Derrida, das der Rahmen, das Parergon, unerlässlich für das gute Bild, das ergon, ist:
Ein Parergon tritt dem ergon, der gemachten Arbeit, der Tatsache, dem Werk entgegen, zur Seite und zu ihm hinzu, aber es fällt nicht beiseite, es berührt und wirkt, von einem bestimmten Außen her, im Inneren des Verfahrens mit; weder einfach außen noch einfach innen; wie eine Nebensache, die man verpflichtet ist, am Rande, an Bord aufzunehmen. Es ist zunächst (d’abord) das An-Bord (l’à-bord).4
Ergo: Gute Bilder brauchen einen Rahmen, mag sich Alfred Müller gedacht haben, als er als ungelehriger Schüler von Georg Baselitz die Rahmen seiner Bilder mit Sätzen wie MODERNE KUNST WAR KOMMENTARBEDÜRFTIG. AUSSER DEN BETEILIGTEN GAB ES KEIN PUBLIKUM oder DER RAHMEN WAR DIE BEDEUTUNG. BEDEUTENDE KUNSTWERKE FIELEN AUS DEM RAHMEN oder DER RAHMEN ERHÖHTE DIE ILLUSION. DER EDLE SCHEIN BLENDETE DIE BETRACHTER aufwendig zu verzieren begann. Mochten Baselitz’ Skandalbilder wie Die große Nacht im Eimer oder Der nackte Mann Anfang der 1960er Jahre noch als »unsittlich« gelten, lösen solche Bilder oder Performances von nackten, teils onanierenden KünstlerInnen heutzutage beim aufgeklärten Betrachter eben nur noch peinliche Berührung aus.
Eigentlich hatte mit Alfred Müller Anfang der 90er Jahren des 20. Jahrhunderts gleich eine ganze Schar junger KünsterInnen in ihren Arbeiten begonnen, den Kontext der Kunst zu thematisieren. Müller wohnte und arbeitete damals in Berlin und erlebte, wie eine ganze Generation von Akteuren des Kunstmilieus aus dem alten rahmenlosen Berlin von Baselitz, Immendorf, Penk & Co die neue Kunsthauptstadt machten.
Vom Rahmen zum Bikini ist es nur ein kleiner Schritt. Als 1992 das Künstlerduo Gilbert & George nach Stuttgart kommt, wie immer in Businessanzügen »Jacke wie Hose«, lässt sich Müller eine weiße Unterhose der Marke Jockey, die er zuvor gekauft hatte, signieren und posiert mit beiden in übergroßem T-Shirt und weißer Schlaghose für ein gemeinsames Foto. Später wird er nach diesem Foto eine Zeichnung fertigen, bei der er dem Duo die Hosen ausgezogen hat, so dass man deren Geschlechtsteile bei näherer Betrachtung unter der Anzugjacke
hervorlugen sieht. Im Gepäck von Ute Meta Bauer, der damaligen Leiterin des Künsterhauses Stuttgart, gelangte ein T-Shirt als Geschenk nach London, worauf sich Gilbert & George brav bedankten. Sehr schnell begannen die jungen Künstler und Kuratoren, geschult durch Vorbilder wie Martin Kippenberger, Albert Oehlen, Werner Büttner in Deutschland oder eben Gilbert & George in England, selbst die Mode für ihre Werke zu schneidern, nicht nur textuelle Bikinis und Slips sondern gleich ganze Anzüge und Kleider.
Gleichzeitig hatte man erkannt, dass sich auch die Idee des nackten peinlichen Kunstwerks im öffentlichen Raum strategisch gut vermarkten ließ. Hier war es vor allem eine Reihe von Künstlern, die rückwirkend mit dem Arcronym YBA, Young British Artists, bedacht wurden, die diesen Raum der Peinlichkeit ausloteten. Vor allem natürlich Tracey Emin mit ihren Arbeiten Everyone I have ever slept with 1963-1995 (1996) und My Bed (1999). Kurz nachdem Alfred Müller Gilbert & George das T-Shirt »in Unterhose« geschickt hatte, begannen die beiden selbst, die Hüllen fallen zu lassen. Auf einer der großen Photomontagen der Serie The Naked Shit Pictures sieht man das Duo nackt, wie sie sich gerade die weißen Unterhosen herunterziehen und ihr Geschlecht entblößen oder von hinten am Po kratzen. Es ist das Banale dieser Bilder, das Tabu-Brecher vom Typ Baselitz das Fürchten lehrt. Unterdessen malt Alfred Müller Bilder, auf denen er stehend in ein Pissoir uriniert und so einen anderen großen Tabubrecher zitiert. Allerdings kann hier von Vatermord kaum noch die Rede sein, wie ihn beispielsweise Eduardo Arroyo, Gilles Aillaud und Antonio Recalti 1965 in ihrem Gemälde Das tragische Ende Marcel Duchamps inszenierten. Müllers Triumpf besteht wie bei Mark Tanseys Triumph over Mastery – ein auf einer Leiter stehender Anstreicher überstreicht mit einer Farbrolle Michelangelos Jüngstes Gericht –, im banalen Akt der Neu-Grundierung eines vor ihm auf dem Tisch lie-
genden Bildes von Jörg Immendorf aus dem Jahr 1972( „Diese Fragen an die Künstler richten- auf Antwort bestehen.“).
Die Vorlage entstammte einer Fotoserie, die er einige Jahre zuvor beim Besuch von Georg Baselitz auf dessen Schloss in Derneburg aufgenommen hatte.
Der Siegeszug des Peinlichen und Banalen wird durch keinen anderen Künstler unserer Zeit besser verkörpert als durch Jeff Koons. Natürlich wären Arbeiten wie die von Koons ohne den Namen des Vaters Duchamp nicht denkbar, aber auch Jeff Koons wird dem Vorbild untreu, wenn er seine banalen Ready-mades – Nippes und Kitschfigürchen – in Edelstahl gießen lässt. Gebürstet oder unpoliert ist »Edelstahl Luxus fürs Proletariat«. Banale Alltagsgegenstände werden durch »Versilberung« zu, allerdings proletarischen, Kunstwerken aufgewertet wie umgekehrt natürlich auch wertvolle Kunstwerke wie beispielsweise die Statue Louis XIV aus der Serie Statuary zu proletarischem Nippes abgewertet werden. Eine ähnliche Strategie, wie sie Jeff Koons beginnend mit den Arbeiten der Werkgruppe Luxury and Degradation seit der Mitte der 1980er Jahre anwendet, wurde auch von Alfred Müller gegen Ende des Jahrzehnts eingesetzt, als er damit begann, seine gerahmten Bilder mit Silberfarbe zu überstreichen. Koons versilberte Ready-made finden Jahre später Einzug ins Müllers Gemälde, die jetzt ohne Rahmen auskommen. Auch das Silber ist auf den fotorealistischen kleinformatigen Aquarellen verschwunden. Als Vorlage für diese Reihe dienten ihm einige Fotografien, die er anlässlich verschiedener Kunstevents machte: mit Mo Edoga 1992 auf der documenta 9, Kippenberger posierend vor seiner Ausstellung in Potsdam 1994, Jeff Koons’ Kiepenkerl bei Max Hetzler 1994, Sarah Lucas bei CFA 1996, Emilio Prini beim Aufbau in der Galerie Kienzle & Gmeiner 1997 oder Sean Landers beim Modellieren eines Affen. Und natürlich Jonathan Meese, den er nach eigenem Bekunden mit seinen langen Haaren und der speckigen Lederjacke als besondere malerische Herausforderung empfand.
Etwas mag ihn auch an der Performance von Meese beeindruckt haben, denn im Prinzip propagiert dieser schon damals die totale Herrschaft der Kunst, die später den Namen Diktatur der Kunst tragen wird. Die Diktatur der Kunst wird total herrschen, wenn die Kunst die mickrige Realität, verstanden als sozialen Rahmen, verdrängt haben wird. Spätestens dann werden gute Bilder keine Rahmen mehr brauchen, bzw. spätestens dann verschwindet die angeblich strukturell unüberwindbare Grenze zwischen Bild und Rahmen und wird sich als rein ideologische erweisen. Jenseits von Duchamp & Co wird Pinkeln wieder Pinkeln sein, totaler Metabolismus – Druck entsteht, Druck entleert sich, Druck entsteht, Druck entleert sich oder eben Maul auf, Lolli rein, Dikatur der Kunst raus – Jacke wie Hose.
ANMERKUNGEN
1) Vgl. Ein Architekt rahmt Bilder. Karl Friedrich Schinkel und die Berliner Gemäldegalerie, Kat. Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin, München Berlin 2007.
2) Boris Groys: »Die dunkle Seite der Kunst« (1996), in: Ders.: Kunst-Kommentare, Wien 1997, S. 57.
3) Groys: »Über die heutige Lage des Kunstkommentators«, a. a. O. (s. Anm. 2), S. 11.
4) Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992, S. 74.